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Anlaufstelle bei akuten Fragen

Digitale Angebote werden immer wichtiger, weil sie niederschwellig, orts- und zeitunabhängig sind, sagt die Online-Beraterin und Demenz-Expertin Dr. Sarah Straub. Foto: Stefan Loeffler

Über 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben mit Demenz. Hinter jedem Erkrankten stehen 2 bis 3 Angehörige. Auch sie befinden sich von jetzt auf gleich in einer herausfordernden Situation mit vielen Fragen und lebensverändernden Entscheidungen. Dr. Sarah Straub ist Neuropsychologin und Demenzexpertin. Sie ist selbst betroffene Angehörige und weiß, was die Diagnose in betroffenen Familien auslöst.


Was sind die drängendsten Themen, die Angehörige von Menschen mit Demenz gerade in der Anfangsphase vor bzw. frisch nach der Diagnose besonders umtreiben?

Wenn ein Angehöriger kognitive Beeinträchtigungen entwickelt, stellt sich die Familie natürlich erst einmal die Frage, ab wann solche Veränderungen nicht mehr Teil eines normalen Alterungsprozesses sind und ein Gang zum Arzt nötig wird. Schon hier kann in Familien großes Konfliktpotential entstehen, weil die Betroffenen selbst diese Veränderungen häufig sehr schambesetzt erleben oder sie erstmal negieren. Viele Angehörige wissen auch gar nicht, welcher Arzt der richtige Ansprechpartner ist, wo eine differenzierte Demenzabklärung stattfindet oder was diese überhaupt bedeutet.

Wird eine Demenzdiagnose dann tatsächlich gestellt, stehen die Angehörigen von Menschen mit Demenz erst recht vor vielen offenen Fragen: Wie geht es weiter, wie schnell oder langsam wird die Erkrankung fortschreiten? Was müssen wir regeln, was kommt auf uns zu? Wo bekommen wir Hilfe? Eine Demenzdiagnose verändert nicht nur das Leben des oder der Betroffenen, sondern das aller nahestehenden Personen. Um das Familienleben mit der Diagnose so gut wie möglich zu gestalten, ist es essenziell, dass sich die Angehörigen erst einmal Wissen über die Erkrankung aneignen und Unterstützungsmöglichkeiten ausloten.

 

Welche Herausforderungen kommen im Laufe der jahrelangen Begleitung eines Familienmitglieds auf die Angehörigen zu?

Primäre Demenzerkrankungen sind sehr dynamisch, denn sie schreiten fort und werden von immer wieder neuen Symptomen begleitet. Die Familien müssen sich ständig auf neue Situationen einstellen, mit neuen Symptomen zurechtkommen, die schwindenden Alltagskompetenzen der Betroffenen kompensieren. Die Betreuung und Pflege des oder der Erkrankten ist mit immer größerem Zeitaufwand verbunden, pflegende Angehörige müssen daher für ihr eigenes Leben viele Kompromisse eingehen. Daneben können auch z.B. bürokratische Hürden für Unterstützungsleistungen an den eigenen Kräften zehren. Und irgendwann werden die pflegenden Angehörigen vielleicht sogar das Gefühl haben, die häusliche Pflege nicht mehr gewährleisten zu können. Die Frage nach einer Heimunterbringung ist dann oft schmerzhaft und verursacht schlechtes Gewissen. Grundsätzlich gilt: Die Herausforderungen und Probleme der Familien sind sehr individuell und sowohl von den bestehenden Symptomen als auch den Lebensumständen der betroffenen Person abhängig. Unsere Aufgabe als Teil des Versorgungssystems ist es, auf jeden Menschen und dessen Situation individuell einzugehen und passgenaue Lösungen zu suchen. Das ist mein Anspruch.

Worauf sind Angehörige nicht vorbereitet?

Es gibt unzählige Situationen, auf die man sich nicht vorbereiten kann. Egal, wie gut man sich in die Thematik eingelesen hat oder sich hat beraten lassen: Man weiß erst, was ein Leben mit Demenz bedeutet, wenn man es selbst erlebt. Daher ist es umso wichtiger, sich frühzeitig Hilfe zu suchen, um nicht in eine Situation der Überforderung und Überlastung zu geraten.

Wo können sich Angehörige informieren, sich über die Erkrankung Wissen aneignen oder auch Hilfe für den Alltag und die Bewältigung bekommen?

In Deutschland gibt es viele engagierte Menschen und Institutionen, welche sich um Menschen mit Demenz und pflegende Angehörige bemühen. Gebündelt werden diese Angebote z.B. im Rahmen der bayerischen Demenzstrategie: Sie hat das Ziel, die Bevölkerung für das Thema Demenz zu sensibilisieren, die Lebensbedingungen von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen sowie deren Teilhabemöglichkeiten zu verbessern. Zudem gibt es in jeder Region lokale Angebote von unterschiedlichen Trägern, die Vortragsreihen, Schulungen und Beratungen anbieten. Auch digitale Angebote werden immer wichtiger: Sie sind besonderes niederschwellig, da sie orts- und zeitunabhängig in Anspruch genommen werden können. Deshalb engagiere ich mich in der Online- Demenzsprechstunde „Frag nach Demenz“. Hier können Angehörige und andere nahestehende Personen per Mail und Chat Fragen zu ihrer individuellen Situation stellen und bekommen von einem interdisziplinären Team maßgeschneiderte Antworten.

Was ist das Besondere an diesem Angebot?

Unsere Online-Demenzsprechstunde soll für Angehörige von Menschen mit Demenz wie ein Leuchtturm in akuter Not sein. Ratsuchende, die sich überfordert oder hilflos fühlen, können sich Tag und Nacht bei uns melden und bekommen zeitnah und von ausgewiesenen Demenzexperten Rückmeldung. Das Team ist gezielt darauf geschult, auch Menschen ohne Wissen über das Thema Demenz „abzuholen“ und sie an die Hand zu nehmen. Sie helfen den Ratsuchenden, an die bestehenden Versorgungsstrukturen in der jeweiligen Region anzudocken, damit sie heimatnah die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Somit ergänzt unsere Online-Demenzsprechstunde optimal bestehende Versorgungsangebote.

Was brauchen Angehörige? Wie können wir ihnen als Gesellschaft helfen?

Angehörige brauchen Anlaufstellen, um sich Hilfe holen zu können. Diese Hilfe muss so niederschwellig wie möglich sein, damit die Familien nicht noch Kraft aufwenden müssen, um überhaupt jemanden zu finden, der sich ihrer annimmt. Gesamtgesellschaftlich ist es wichtig, der „Care-Arbeit“ mehr Anerkennung zukommen zu lassen. Es ist enorm, was pflegende Angehörige leisten und sie haben in unserer Gesellschaft leider viel zu oft kaum eine Stimme.

Wie können sich Angehörige selbst helfen?

Angehörige können sich z.B. über Selbsthilfegruppen vernetzen. Wer mit einem Menschen mit Demenz zusammenlebt, wird zwangsläufig zum Experten für die Erkrankung. Dieses Wissen an andere Angehörige weiterzugeben oder umgekehrt sich von anderen Angehörigen Hilfe und Tipps für den Alltag zu holen, wird stets als sehr hilfreich empfunden. Ich würde jedem/r Angehörigen empfehlen, solche Selbsthilfeangebote wahrzunehmen. Auch ein offener Umgang im eigenen Freundes-, Kollegen- und Bekanntenkreis ist hilfreich. Die Angehörigen sollten versuchen, andere nahestehende Personen mit einzubeziehen, so dass erst gar keine Vorbehalte und Ängste aufgebaut werden können. So wird gewährleistet, dass die Betroffenen weiterhin Freundschaften pflegen können und gemeinsame Freizeitaktivitäten möglich sind. Das entlastet pflegende Angehörige und ermöglicht ihnen Zeiten zum „Durchatmen“ und zur Selbstfürsorge. Familienmitglieder von Menschen mit Demenz sind häufig in Gefahr, sich zu überlasten und zu überfordern. Um gesund zu bleiben, sind Freiräume im Pflege- und Betreuungsalltag wichtig.

Was wünschen Sie sich in Bezug auf Demenz und die Situation der pflegenden Angehörigen?

Ich wünsche mir einen offeneren gesamtgesellschaftlichen Umgang mit Demenz. Es kann jeden von uns treffen, also dürfen wir nicht die Augen davor verschließen. Niemand sollte sich schämen müssen, wenn er kognitive Beeinträchtigungen hat. Vielmehr sollte es selbstverständlich sein, dass man mit einer Demenzdiagnose trotzdem noch am sozialen Leben teilhaben kann.

Für die Situation der pflegenden Angehörigen wünsche ich mir ein größeres Verständnis für individuelle Probleme, die dann eben auch individuelle Lösungen erfordern. Trotz gut ausgebauter Versorgungsstrukturen fühlen sich viele Familien allein gelassen – wir können nicht grundsätzlich erwarten, dass akut belastete Angehörige die Zeit, Kraft und Weitsicht aufbringen, sich selbst ein optimales Unterstützungsnetzwerk für den oder die Betroffene aufzubauen. Viele Familien müssen an die Hand genommen werden, um sich im Behörden und Antragsdschungel zu Recht zu finden.

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