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Desideria Care Preis für Fotografie 2022 – Demenz neu sehen

„Sie hat dann gelacht, ihr altes Lachen, kräftig und voll“ 

Im Gespräch mit Preisträgerin Stephanie Harke, Braunschweig, Sonderpreis 

Im untenstehenden Protokoll erzählt Preisträgerin Stephanie Harke, wie das Bild entstanden ist. Das Protokoll wurde aufgeschrieben von Reportagejournalist Manuel Stark und ist zum kostenfreien Abdruck freigegeben.

Die Geschichte hinter dem Bild (Wortlautprotokoll)

Jede Familie besitzt ja ihren Klassiker, etwas, das immer wieder kommt. Bei uns waren das die Bettschuhe meiner Oma. Kleine, gehäkelte Kunstwerke, die man als Hausschuhe oder im Bett getragen hat. Ich weiß bis heute nicht, wo das herkommt. Im Laden kaufen kann man sowas nicht. Es war eben so ein Oma-Ding, das ich nie hinterfragt habe. Oma kommt aus Schlesien, vielleicht war das dort Tradition. Jedenfalls hat unsere ganze Familie immer Bettschuhe bekommen und unsere Freunde auch. Sie kamen ohne Anlass, einfach so, aber auch ständig neue. Deswegen haben wir viele weitergegeben, alle hätten wir gar nicht selbst nutzen können. Neulich hat eine Freundin gesagt, sie hätte immer noch welche. Mindestens zwanzig Jahre alt, überall schon geflickt, aber die dürfen nicht weg. Es ist etwas Besonderes an diesen Geschenken, so seltsam die Gegenstände auch wirken.

Als die Demenz vorangeschritten ist, wurden die Schuhe komisch. Manchmal hat Oma gehäkelt und gehäkelt, bis das Teil einen Meter lang war. Einmal hatte sie eine Platte mit zwei Riemchen drauf. Ich habe sie gefragt: Oma, was soll man damit machen? – Ja, da soll man reinschlüpfen – Aber Oma, damit kann man gar nicht gehen, die sind zusammengebunden. Es war, als würde sie aufwachen. Sie hat dann gelacht, ihr altes Lachen, kräftig und voll. Wenn sie wieder wach war, das waren die schönsten Momente.

Mit dem Voranschreiten der Krankheit hat sie Küsschen gegeben und uns angefasst. Händchenhalten wurde zur schönsten Form der Kommunikation. Das war traurig und schön. Meine Oma war eher streng. Zur Begrüßung hat sie mir die Hand hingehalten. Händeschütteln zur Begrüßung der Enkelin, von meinen Freunden kenne ich das anders. Aber auch wenn diese neue Nähe und Wärme erstmal schön ist, sie tut auch weh. Weil man merkt, dass der Mensch mit den strengen Gesten verschwindet. Sie hatte eine besondere Stärke, eine Kriegsvergangenheit mit Flucht aus Schlesien. Wir konnten ihr diese Härte in ihrem eigenen Leben immer verzeihen, wir wussten schließlich, wo es herkommt.

Oma war auch sehr modebewusst und immer super angezogen. Geschminkt hat sie sich nicht, aber die Dauerwelle fehlte nie. Mit der Krankheit hatte sie erst bekleckerte Pullover an, später hat meine Mutter ihre Kleidung rausgesucht. Irgendwann ist Oma in eine Demenz-WG gezogen. Da haben sie Klamotten getauscht. Und Oma fand das gut. Zehn Jahre vorher hätte sie noch gesagt: Auf keinen Fall, das macht man nicht.

Obwohl in der WG immer alles schön war und man sich wohl gefühlt hat, war das vielleicht die Phase der Krankheit, während der meine Trauer am größten war. So viele Eigenschaften waren weg. Auch das volle Lachen. Offene Freude kostet Energie, und Ruhe war ihr da wichtiger. Aber ich glaube, sie hat bis zum Ende erkannt, dass wir Familienmitglieder waren.

Oma ist 2015 gestorben, mit 95 Jahren. Wir hatten noch ganze Säcke voll mit ihren Kunstwerken. Es war eben einfach ihre Lieblingsbeschäftigung. Lange Zeit war meine Mutter damit beschäftigt, ständig irgendwoher neue Wolle zu holen, damit es immer weitergehen kann. Wir hatten Dutzende Kreationen. Aber was damit machen? Einfach in den Säcken lassen wollte ich sie nicht, sonst zerfressen das irgendwann nur die Motten. Also habe ich die Bettschuhe vor bunten Hintergründen fotografiert. Natürlich noch viele mehr, als in der Auswahl zu sehen sind. Für mich waren die Bettschuhe eben ein Zeichen dafür, dass eine Demenz-Krankheit auch mit lustigen Momenten einhergeht. Damit meine ich nicht, dass man sich darüber lustig machen oder über die kranke Person lachen soll, überhaupt nicht. Auch bei uns gab es genug ernsthafte Momente. Aber eben auch Momente, wo man gemeinsam mit dem Demenzkranken über eine Sache lacht. Das ist eben wichtig: Gemeinsam über einen Umstand lachen, nicht von außen über den Menschen.

Autor: Manuel Stark, http://manuelstark.de/ 

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