Direkt zum Inhalt

Desideria Care Preis für Fotografie 2022 – Demenz neu sehen

„Ihre Zärtlichkeit ist nicht kaputt zu kriegen“ 

Im Gespräch mit Preisträgerin Ingrid Hagenhenrich, Münster, Preisträgerin Kategorie „Profi“ 

Im untenstehenden Protokoll erzählt Preisträgerin Ingrid Hagenhenrich, wie das Siegerbild entstanden ist. Das Protokoll wurde aufgeschrieben von Reportagejournalist Manuel Stark und ist zum kostenfreien Abdruck freigegeben.

Die Geschichte hinter dem Bild (Wortlautprotokoll)

„Hans-Jürgen und Marie, dieses wunderbare Paar, habe ich durch ein Buchprojekt kennengelernt, zu dem ich die Fotos beisteuern durfte. Es gibt das Foto, auf dem die beiden aussehen, als würden sie tanzen. Das war unser Kennenlernbild. Wie alle Fotos, ist es Schwarzweiß. Farbe ist geschwätzig, sie erzählt zu viel und lenkt ab. Mit Schwarzweiß kann ich besser die Geschichte herausstellen, die ich erzählen will.

Vier Jahre nach unserem Kennenlernen hat Hans-Jürgen mir geschrieben: Vielleicht weißt Du es schon, das wäre doch etwas für dich. Er schickte Informationen zum Wettbewerb. Zwei Tage könne ich bei ihnen vorbeikommen und ihren Alltag einfach mal miterleben. Ich sei herzlich eingeladen.

Als ich bei ihnen zuhause angekommen bin, habe ich mich erst etwas erschrocken. Die laute, aufbrausende, witzige Frau, die auch mal randaliert hat, war verschwunden. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, sprach sie Deutsch und Niederländisch und sang viel. Hänschen-Klein war ihr Lieblingslied. Sie wurde in einer Einrichtung ambulant betreut, und sobald sie dort war, ist sie durch die Flure marschiert und hat geklatscht und alle mussten mitsingen. Da ließ sie nicht locker. Wenn sie genug hatte, kam sie zu ihrem Mann. Jürgenchen, sagte sie, Jürgenchen, wir haben‘s doch gut. Und er antwortete: Ja, MaRiechen, wir haben‘s gut.

Es wirkte auf mich manchmal, als kenne er keine Grenzen. Wie er sie immerzu forderte! Er nahm sie mit in Restaurants, zu Ausstellungen, Konzerten, egal wohin, egal was andere sagten oder wie sie guckten. Auf keinen Fall wollte er nachgeben. Hans-Jürgen organisierte Musikunterricht, Tanzunterricht, immer neue Dinge.

Manchmal habe ich mir gedacht, kann er sie nicht mal in Ruhe lassen? Nein, sagte er, Mariechen muss stimuliert werden – sie muss, sie muss, sie muss. Und ich dachte wieder, vielleicht will sie einfach nur schlafen. Und er sagte wieder: Nein, ich werde sie nicht fallen lassen. Wenn ich loslasse, gleitet sie zwischen meinen Fingern in die Dunkelheit.

In den zwei Tagen waren sechs Leute da. Die eine massiert, die andere kocht, die nächste spricht Niederländisch. Hans-Jürgen nennt das Armee der Engel. Aber die Armee muss bezahlt werden. Er kämpft um mehr Unterstützung, versucht alles, um Geld aufzutreiben. Pflegende Angehörige werden mit allen Herausforderungen oft alleingelassen, sie fallen aus dem Raster des Systems.

Und weil jede Zuwendung, egal wie banal sie wirkt, hilft, das Fallen aufzuhalten. Vor zwei Jahren habe ich die beiden zwischendurch kurz gesehen, da war das Deutsche weg und nur noch das Niederländische da. Und jetzt, bei meinem letzten Besuch, war schon die Stille da. Nur einen Satz hat sie immer wieder wiederholt: Alles für die Kinder. Sie hat zwei Söhne. Beide wohnen in der Nähe. Das hat mich berührt, ich habe selbst zwei Kinder. Während der zwei Tage saß Maria auch mal vollgeschmiert von Nutella und Marmelade am Küchentisch.

Aber mit meinen Fotos will ich nicht die Symptome der Demenz zeigen, sondern den Weg, den die beiden gemeinsam gehen. Jürgen und MaRiechen, da ist Liebe da. Die Zärtlichkeit war mir wichtig. Auch, weil das ein wesentlicher Bestandteil von Marias Persönlichkeit ist: Ihre Zärtlichkeit ist nicht kaputt zu kriegen.  

Während meines Besuchs habe ich ihr mal die Haare geflochten, sie geholfen anzuziehen und sie hat sich bei mir auf den Schoß gesetzt. Diese Frau, vielleicht 1,35 Meter, ein klitzekleines, leichtes Vögelchen. Da habe ich die Augen zugemacht, weil ich das inhalieren wollte, nicht loslassen wollte. Wie schade, dass man nicht von Innen fotografieren kann. Genau deshalb musste ich mich manchmal auch zurückziehen. Maria auf meinem Schoß, das hat Mutterinstinkte geweckt. Was passiert, wenn ich irgendwann auf dem Schoß meiner Kinder sitze? Da musste ich weinen.  

Ein Foto gelingt, wenn ich mich selbst verletzlich mache. Dann spüren die anderen, sie dürfen das auch. Wenn ich zurück von solchen Reisen komme, wartet mein Liebster am Bahnhof. Weil er weiß, da kommt ein kleines Häufchen beglücktes Elend zurück.

Autor: Manuel Stark, http://manuelstark.de/ 

Der Desideria Newsletter

Mit unserem Desideria Newsletter bleiben Sie auf dem Laufenden und erhalten Neuigkeiten zu unseren Unterstützungsangeboten, Aktionen in der Öffentlichkeit und Veranstaltungen.

Hier zum Newsletter anmelden