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Newsbeitrag

„Die Angehörigen sind unsere wichtigste Ressource“

07.04.2025

Jim Ayag ist Altenpfleger aus Überzeugung und arbeitet mittlerweile als Pflegedienstleistung in einem Pflegeheim. Auf Social Media gibt er Einblicke in den Alltag im Pflegeheim. Ehrlich und mit einer Prise Humor erzählt er von Frau und Herr Tippelkamps, einem Synonym für die Bewohner:innen. Nun hat er ein Buch geschrieben: „Das Herz kennt keine Demenz“.

 „Mein Ziel ist es, Angst vor dem Pflegeheim zu reduzieren und für Vertrauen in die Pflege zu werben“, sagt der 40-Jährige. Im Interview erzählt er von seinem Weg in die Pflege, wie wichtig Alltagsbegleitung in der Betreuung von Menschen mit Demenz ist und was Angehörige tun können, um für die Person mit Demenz – und sich selbst zu sorgen.

Lieber Jim, das Thema Pflegeheim verunsichert ja viele und auch Angehörigen fällt es oft schwer, sich damit zu beschäftigen. Es ist meist ein langer Weg bis zum Einzug ins Heim. Wie erlebst du das?


Gerade am Anfang erlebe ich oft Gewissenskonflikte. Bei der Neuaufnahme gehen die meisten Angehörigen ungefragt sofort in die Rechtfertigung und sagen: „Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich will meine Mutter oder meinen Vater abschieben. Wir haben wirklich alles zu Hause versucht.“ Ich sehe auch, wie erschöpft viele Angehörige sind. Aber keiner muss sich rechtfertigen. Im Gespräch vermittele ich den Angehörigen dann erstmal: „Es ist alles in Ordnung. Sie machen nichts falsch. Wir im Pflegeheim sind dafür da, um Sie zu unterstützen.“

Ist es das schlechte Gewissen oder was steckt dahinter?


Das schlechte Gewissen ist das eine. Aber ich habe das Gefühl, dass die Menschen Sorge oder gar Angst vor dem Pflegeheim haben. Es wird so viel Negatives über die stationäre Langzeitpflege berichtet, über Missstände und Krisen, dass den Menschen das Vertrauen in die Pflege fehlt. Unser Job ist aber wirklich toll und wir leisten Tolles für die Menschen. Doch darüber wird zu wenig berichtet und in den Köpfen bleibt das negative Image – und das fördert die Angst und das schlechte Gewissen.

In deinem Buch „Das Herz kennt keine Demenz“ schreibst du über deinen Weg in die Pflege, obwohl du ja gar nicht Altenpfleger werden wolltest, oder?


Ja, ich wollte auf keinen Fall in der Pflege arbeiten – und das, obwohl ich sozusagen im Altenheim aufgewachsen bin. Meine Eltern, auch sämtliche Familienmitglieder und Freunde arbeiten in der Pflege. Wenn ich an meine Kindheit in diesem Umfeld denke, erinnere ich mich überwiegend an gute Dinge, an Aufführungen und Sommerfeste im Altenheim und gemeinsame Ausflüge. Dass ich nicht in die Pflege wollte, hing damit zusammen, dass ich mir die körperliche Arbeit, die Intimpflege und die Schichtarbeit nicht vorstellen konnte.

Und dann kam alles anders?


Ich war damals, das war 2011, schon länger auf der Suche nach einer Ausbildung und wusste nicht so recht, wohin mit mir. Mein Mann arbeitet als Altenpfleger. Er meinte, dass Alltagsbegleitung für mich genau richtig wäre, denn ich bin sehr gerne mit Menschen zusammen und auch mit alten Menschen. Ich wusste anfangs auch nicht, was Alltagsbegleiter machen. Wie so viele Menschen habe ich bei Pflege nur an die körperliche Pflege gedacht. Aber Pflege ist viel mehr und die psychosoziale Betreuung durch die Alltagsbegleiter:innen ist enorm wichtig. Mein Mann konnte mich überzeugen, es auszuprobieren und eine Ausbildung anzufangen. Das war eine der besten Entscheidungen in meinem Leben!

Was genau sind denn Aufgaben der Alltagsbegleitung?


Früher konnten Pfleger:innen noch Beschäftigungen betreiben. Das ist heute unter den aktuellen Bedingungen kaum möglich. Unsere Frau und Herr Tippelkamps in der Langzeitpflege brauchen aber ganzheitliche Betreuung und gerade Menschen mit Demenz benötigen viel Begleitung im Alltag. Das ist Aufgabe der Alltagsbegleiter:innen, also professioneller Betreuungskräfte. Nach außen hin mag es aussehen, als ob wir einfach schöne Dinge machen, etwa spazieren gehen, ein Fotoalbum anschauen oder Plätzchen backen. Aber dahinter steckt Professionalität. Immer hinterfragt man: Was ist das Ziel der Betreuung? Wie fördere ich die Person? Was ist heute möglich? Wie kann ich Lebensqualität schenken? Und das bei straffem Zeitplan. In der stationären Langzeitpflege ist die Aktivierung das A und O.

Viele Menschen denken ja, mit Menschen mit Demenz könne man nichts mehr machen. Die Krankheit ließe sich nicht beeinflussen. Welche Erfahrungen hast du gemacht?


Diese Aussage ist eine Katastrophe! Manchmal sind es nur kleine Dinge, aber man kann immer etwas tun, um einem Menschen Lebensqualität zu schenken. Gehen wir mal von folgender Situation aus: Da ist eine immobile Frau Tippelkamp. Sie liegt im Bett, fortgeschrittene Demenz, spricht nicht mehr, äußert sich nur über Gestik und Mimik. Über basale Stimulation kann man sie erreichen. Als Alltagsbegleiter war das mein Steckenpferd. Ich habe es geliebt mit dem Snoozelwagen zu den immobilen Bewohner:innen zu gehen. Durch sanfte Bewegungen konnte ich bei ihnen Erinnerungen wecken und für einen Moment Lebensqualität schaffen. Die Reaktionen sind manchmal gering, nur Mikrobewegungen, aber als Alltagsbegleiter kann ich die Zeichen erkennen und darauf eingehen.

Für Familien ist es oft eine schwere Entscheidung, dass ihr Angehöriger mit Demenz in ein Heim einzieht. Was rätst du Angehörigen? Wann ist der richtige Zeitpunkt?


Das ist individuell und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ich habe aber schon das Gefühl, dass die meisten Angehörigen den Eintritt ins Heim sehr hinauszögern. Häufig erlebe ich es, dass die Angehörigen völlig erschöpft und ausgelaugt sind. Sie können wirklich nicht mehr und alle sind hoch gereizt. Die Entscheidung für das Heim hätte eigentlich schon viel früher passieren müssen.

Woran liegt es, dass die Entscheidung oft spät fällt?


Gründe sind sicher das schlechte Gewissen, die Angst und das schlechte Image der der Langzeitpflege. Aber auch das System spielt eine Rolle. Es gilt ja ambulant vor stationär. Das heißt: Zunächst wird die ambulante Versorgung ausgeschöpft und dann kommt die stationäre Pflege ins Spiel. Vielleicht wäre das auch gar nicht das Problem, wenn es genug Unterstützungs- und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige gäbe. Aber es fehlt an Angeboten und das führt dann zu der Überlastung der pflegenden Angehörigen. Mir macht es Sorge, dass sich diese Entwicklung eher noch verschlechtern wird bei dem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel. Es ist unsere Aufgabe als Gesellschaft, uns mit der Pflege zu beschäftigen und neue lösungsorientierte Ansätze zu finden und zu fördern.

Wie können Angehörige dazu beitragen, dass es der Person im Heim gut geht?


Die Aufnahmegespräche sind wichtig. Da kann ich jedem Angehörigen empfehlen, das Schamgefühl abzulegen und nicht unbedingt schönzureden, was die Mutter oder der Vater Tolles machen oder gemacht haben, sondern ehrlich zu sein und uns so viel wie möglich vom Leben der Person zu erzählen. Nur dann kann ich im Rahmen der Biografiearbeit die richtigen Maßnahmen durchführen. Das ist besonders wichtig im Umgang mit Menschen mit Demenz, die sich selbst nicht mehr äußern können. Unsere Angehörigen sind die wichtigste Ressource.

Kannst du ein Beispiel nennen? Welche Informationen brauchst du, um eine Person gut begleiten zu können?


Ich erinnere mich an eine Frau Tippelkamp, die sehr freizügig war und sich gerne mal ausgezogen hat. Wir hatten uns darüber gewundert. Irgendwann habe ich die Tochter darauf angesprochen und sie erklärte dann verschämt, dass die Mutter früher gerne am FKK-Strand war. Der Tochter war es peinlich gewesen, davon zu erzählen, für uns war das eine hilfreiche Information. So konnten wir das Verhalten einordnen. Wir haben dann ein Setting geschaffen, in dem ihre Intimsphäre geschützt war, auch die der anderen, und zwar im Raum der Sinne und so konnte die Bewohnerin ihre Vorliebe ausleben.

Manchmal ist es vermutlich nicht so einfach, oder?


Nein, natürlich nicht. Zum Beispiel, wenn ein Ehepaar einzieht und die Frau sehr abweisend gegenüber ihrem Ehemann ist. Da ist es wichtig herauszufinden, in welcher Erlebniswelt sie stecken und was sich dahinter verbergen könnte. Es kann ja sein, dass Gewalt in der Ehe ein Thema war. Wir als professionell Pflegende brauchen diese ehrlichen Einblicke, auch in die Beziehungen der Familienmitglieder. Je mehr Input wir bekommen, umso besser der Output für unsere Menschen mit Demenz.

Und wenn es zu Unstimmigkeiten mit Angehörigen kommt?


Klar, kommt es auch zu Unstimmigkeiten. Ich kann nur raten, Themen frühzeitig anzusprechen und im Gespräch zu klären. Durch regelmäßige Gespräche und Transparenz versuche ich Vertrauen in unsere Arbeit zu schaffen. Ich wünsche mir, dass Angehörige unsere Professionalität anerkennen. Manchmal gibt es Diskussionen, beispielsweise kommt die Tochter und beschwert sich, weil die Mutter nicht vorbereitet ist für den Spaziergang, den die Tochter mit ihr machen wollten. Aber wir haben ja unsere Gründe. Für mich steht das Wohlbefinden und die Selbstbestimmung der Menschen mit Demenz an oberster Stelle. Das ist meine Maßgabe. Es ist wichtig, immer wieder hinzuschauen, wer welche Bedürfnisse hat. Ist es die Mutter, die spazieren gehen möchte oder die Tochter? Wir in der Langzeitpflege leisten viel Beziehungsarbeit, mit den Bewohner:innen und den Angehörigen.

Was hast du von Menschen mit Demenz gelernt?


Sehr viel. Das Wichtigste ist wahrscheinlich: die Dinge zu akzeptieren. Erst neulich habe ich das wieder erlebt. Es war eine Situation, in der ich etwas verzweifelt war. Eine Frau Tippelkamp sah mein Gesicht. Dann klopfte sie mir auf die Schulter und sagte: „Da kannst du nichts machen. Es ist wie es ist.“ Diese Akzeptanz, die habe ich von Menschen mit Demenz gelernt. Die Dinge hinzunehmen, wie sie sind und das Beste draus zu machen.

Gibt es noch eine Anregung oder einen Tipp, den du Angehörigen von Menschen mit Demenz mitgeben möchtest?


Vergesst euch selbst nicht. Es ist super, wie ihr euch kümmert. Ich habe wirklich großen Respekt vor pflegenden Angehörigen, die sich um ihre Liebsten kümmern. Ich möchte Angehörige ermutigen, sich ein Netzwerk aufzubauen, Freunde, Familie und Nachbarn zu fragen, die sie entlasten können. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan. Aber es bringt eurem Angehörigen mit Demenz nichts, wenn ihr verzweifelt und überlastet seid und kein eigenes Leben mehr habt. Sie haben den größten Benefit von euch, wenn es euch gut geht. Ansonsten kann ich nur sagen: Ein großer Dank an alle pflegenden An- und Zugehörigen! Ihr leistet so viel und werdet viel wenig gesehen.
 

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„Das Herz kennt keine Demenz“ von Jim Ayag

Auf Social Media ist der Altenpfleger Jim Ayag unter dem Motto „Mehr lachen als meckern“ aktiv. Nun hat er ein Buch geschrieben: „Das Herz kennt keine Demenz“.

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