Pflege und Beruf vereinbaren
Die Diagnose Demenz ändert nicht nur das Leben der Erkrankten, auch die Angehörigen stehen plötzlich vor großen Herausforderungen. Für Mutter/ Vater, Ehefrau oder -mann mit Demenz da sein, im Job abliefern, die Familie versorgen und auch die eigenen Interessen nicht vernachlässigen – plötzlich ist da dieser Berg an Herausforderungen, gepaart mit Hilfslosigkeit und Überforderung. Um in dieser Zerrissenheit nicht unter die Räder zu kommen, ist eine gute Strategie gefragt. Anja Kälin, selbst Tochter einer an Demenz erkrankten Mutter, weiß das nur zu gut. Als systemischer Coach und Desideria-Familientherapeutin mit dem Schwerpunkt Demenz begleitet sie pflegende Angehörige.
Pflegenetzwerk aufbauen
Ein Grundstein dafür ist ein Pflegenetzwerk. Das gilt es aufzubauen. Es hilft bei der Entlastung im häuslichen Kontext. „Neben Familie, Freunden und Nachbarn, die z.B. mit dem Erkrankten Zeit verbringen oder einen Einkauf übernehmen, gehören dazu auch Hausärzte, Therapeuten und Pflege- und Beratungsstellen. Gleichzeitig ist es wichtig, eine gesicherte Diagnose zu haben und sich Wissen anzueignen. Um Hilfen abrufen zu können. Und auch, um die Demenzform zu kennen und verschiedene Phasen und daraus resultierende Bedürfnisse des Erkrankten zu verstehen.
Mehr Offenheit
Und auch wenn’s schwerfällt: Offen über die Krankheit zu sprechen und sich frühzeitig Gedanken darüber zu machen, wann man wen über die Erkrankung seines Familienmitglieds ins Vertrauen zieht, erleichtert Vieles. „Da gehört auch der Arbeitgeber dazu“, erklärt Anja Kälin. Wem man sich im Unternehmen anvertraut, hängt auch von der Kultur und den Angeboten des Arbeitgebers ab. „Das kann z. B. die Führungskraft, die Personalabteilung, der Betriebstrat oder das betriebliche Gesundheitsmanagement sein. In manchen Firmen gibt es auch Pflegelotsen, die Mitarbeiter in solchen Situationen beraten“, weiß die Familientherapeutin. In kleinen Unternehmen fällt es pflegenden Angehörigen häufig schwerer, darüber zu sprechen. Da ist die Sorge, dass die Arbeit, die man nicht erledigt bekommt, beim anderen landet. Die Angst vor dem Unverständnis der Kollegen und vor dem Stigma. „Man öffnet sich schließlich mit einem Thema, mit dem man sich sehr verletzlich fühlt“, erklärt Anja Kälin. Dennoch plädiert sie für Offenheit: „In dem Moment, in dem man es anspricht, kommen vielleicht auch andere Kollegen, die sagen ,Mensch, mir geht es genauso wie dir‘. Wir gehen davon aus, dass jede fünfte Familie betroffen ist. Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass im Kollegenkreis jemand mit einer ähnlichen Situation ist, recht hoch.“
Arbeitgeber sind auch gefordert
Aber auch Unternehmen sind gefragt: „Demenz hält sich nicht an Arbeitszeiten. Wir brauchen individuelle und flexible Lösung, damit pflegende Arbeitnehmer nicht ständig mit diesem Gewissenskonflikt und Leistungsdruck kämpfen müssen. Schließlich ist es auch für Unternehmen unglaublich kostenintensiv, wenn sie das Thema links liegen lassen und Mitarbeiter verlieren.“ Es gäbe zwar gute Ansätze. Etwa, dass man sich zehn Tage freinehmen kann. Nur: „Mit zehn Tagen bei einer Demenzerkrankung kommt man nicht weit“, sagt Anja Kälin. Viele pflegende Angehörige investieren daher auch oft ihre Urlaubszeit in die Betreuung und Pflege. Doch genau diese Erholung bräuchten sie so dringend.
Neue Kraft tanken
Anja Kälins Tipp: „Scheuen Sie sich nicht, Tages- oder Kurzzeitpflege zu nutzen und sich auch mit dem Thema Pflegeheim auseinanderzusetzen. Klar löst das Ängste aus. Gleichzeitig hören wir in unseren Coachings und Online-Seminaren immer wieder von Angehörigen, die sich trauen, diesen Schritt zu gehen, wie gut es klappt. Und wie überrascht sie sind, wie sowohl der Erkrankte die Zeit verkraftet und wie gut es auch ihnen tut, mal in den Urlaub zu fahren und für eine gewisse Zeit, die Verantwortung an eine Einrichtung zu delegieren. Solche demenzfreien Inseln zu schaffen, für einen Moment für sich selbst zu sorgen, ist essenziell. „Pflege ist ein langer und schwer abschätzbarer Prozess ist. Sie erfordert Kraft und Energie über einen langen Zeitraum und man muss sich die Kräfte einteilen. „Nur wer selbst stabil im Leben steht, kann für einen erkrankten Angehörigen da sein“, betont die Expertin.